Standort Namslau

 

Die Stadt Namslau heißt heute Luban und ist eine polnische Kreisstadt in Niederschlesien. Die Stadt liegt 24 km östlich von Görlitz am Ufer des Queis. Die Stadt wurde im Februar und März 1945 wurde die Stadt zu rund 60% zerstört und wechselte zweimal den Besitzer.

Bericht über

das Ende des deutschen Lebens in Namslau Bez. Breslau

 
 

1. Teil,
bis zur vollständigen Räumung
am 21. Januar 1945,

 
 

erstattet von G. Röchling, Pastor,
unter Berücksichtigung erreichbarer brieflicher Mitteilungen,
mit einem stichwortartigen Bericht des Landrats Heinrich über die Tage
18. - 22.1.1945

 
 

Lembeck (Westfalen)
März 1951

 
 

 

Vorwort

Mit dieser Niederschrift will ich der Heimat einen winzigen Teil des Dankes abstatten, den sie verdient.

Wie sich die Vertreibung aus der Heimat zugetragen hat in den einzelnen Gegenden des Os-tens, das muß ja einmal festgehalten werden. Mir als früherem Pfarrer der evangelischen And-reaskirchgemeinde in Namslau, lag es schon lange auf dem Herzen, das aufzuschreiben, was ich von mir und anderen lieben Gemeindemitgliedern und Heimatgenossen über die schick-salsschweren Tage und Monate des Jahres 1945 dort weiß. Bis jetzt haben mich die Aufgaben der Gegenwart und eine gewisse - wohl begreifliche - Scheu daran gehindert. Aber in den Januartagen des Jahres 1951 sagte ich mir: Wenn Du es jetzt nicht tust, dann verblassen die Erlebnisse immer mehr, und wer weiß, ob Du Dich noch jemals dazu aufschwingst.-

Und so habe ich die Niederschrift gewagt. Ich danke allen, die mir in ihren Briefen darüber berichtet haben. Ein großer Vorteil ist es, dass der damalige Landrat Heinrich mir seine Aufzeichnungen in kurzen knappen Stichworten zur Verfügung stellte. Meine Rundbrie-fe haben ihn auf mich aufmerksam gemacht, und er ergänzte so meinen Erlebnisbericht durch seinen behördlichen Bericht, der die Ereignisse von seiner Namslauer Befehlsstelle aus sieht. Merkwürdigerweise kam er gerade in jenen Tagen nach Namslau auf Urlaub.

Wenn auch schon 6 Jahre über die entscheidungsreichen Tage hinweggegangen sind, ist es doch immer noch schwer, ein einwandfreies einheitliches Bild zu malen. Aber ich meine doch mit meinen Aufzeichnungen den Eindruck wiedergegeben zu haben, den der Sturm dieser Wintertage auf Gemüt und Verstand gemacht hat. Für Ergänzungen und Berichtigungen bin ich dankbar. Wenn es mir geschenkt wird, will ich einen weiteren Teil folgen lassen, der die letzten Kämpfe beschreibt und das Schicksal der Ausgetriebenen. Ich erbitte dazu die Mitar-beit durch Zusendung von Berichten.

Gottfried Röchling

Pastor in Namslau 1930 - 1945


DIE VERTREIBUNG AUS DER HEIMAT

I. Krampfhafte Versuche, Schlesien in Verteidigungszustand zu setzen, im Jahre 1944

Je näher die russischen Heeressäulen unserer Heimat kamen, desto mehr erkannte man die Notwendigkeit, den Heimatboden bereit zur Verteidigung zu machen. Dem Volk wurde eröff-net, daß alle Kräfte zu Schanzarbeiten eingesetzt werden müßten.

Die Hilterjugend wurde dafür bestimmt. Am 28. August 1944 erlebte ich auf dem Hirschber-ger Bahnhof den rührenden Abschied der Hilterjungen von ihren Eltern. Sie sollten nach den östlichen schlesischen Grenzstädten. In Groß-Wartenberg und Festenberg lagen die Jungen zumeist auf den Böden der Häuser, da die andern Unterkünfte nicht ausreichten.
Mädchen wurden zum Kochen und Nähen für sie eingezogen. Viele Zivilisten wurden einge-setzt.

Von Breslau gingen sonntags die Schanzerzüge hinaus, um Breslau wehrhaft zu machen. Am Mittwoch waren die Geschäfte wegen der Schanzaktion geschlossen.
Überall, auch in und um Namslau wurde geschanzt, geschanzt. Und man gab den ausgehobe-nen Stellungen den Namen "Barthold-Stellung". Der Name stammt von dem nationalsozialis-tischen Geschichtsroman "Vogt Barthold", der die Besiedlung Schlesiens z. Zeit der Herzogin Hedwig schildert. - Ein damals 63-jähriger Namslauer Herr hat noch bis zum 6.1. in Henners-dorf schanzen müssen.

Der alte Friedhof wurde durchgewühlt. Am Sportplatz wurden Stellungen gebaut. Im freien Lande um uns, der polnischen Grenze entgegen, schachtete man Panzergräben aus. Das Rit-tergut Glausche hatte 1553 Morgen. Davon gingen mindestens 320 bis 350 Morgen durch die Schanzerei für die Bebauung verloren.

Die Rüstungsindustrie kam nach Namslau. Alle noch verfügbaren Arbeitskräfte dort einge-stellt. Teile der Haselbach´schen Brauerei wurden dazu benutzt, das soeben erst fertiggestellte Hitlerjugendheim auf der Wiese zwischen Schloß und Stadtpark wurde dazu hergerichtet, und im Stadtpark wurde unter der Erde und über der Erde gewühlt und gebaut, damit die "ELAC" aus Kiel Raum hätte für ihre Produktionsbetriebe. Der Wohnraum wurde immer knapper.
Denn außer dem Militär und den Rüstungsarbeitern mußten ja auch Evakuierte aus dem Wes-ten untergebracht werden und seit dem Sommer 1944 Breslauer Schulkinder. Es wurde schwer, die kirchlichen Versammlungen und den kirchlichen Unterricht überhaupt noch auf-recht zu erhalten. Es war ja auch der Wille der NS-Regierung, dem lebendigen Organismus der Kirche ihren Atem zu nehmen. Die "Herberge zur Heimat", die in den letzten Jahren ihre Pflicht tat als Hospiz, wurde in ein Hilfskrankenhaus verwandelt. Damit verloren wir den dor-tigen Versammlungssaal und die kirchliche Unterweisungsstätte.

Als Ersatzraum waren uns - völlig unzulängliche - zwei Hinterräume der Gastwirtschaft Lan-ge am Ring gegeben worden. Aber auch diese wurden uns wieder genommen für Männer des Unternehmens "Barthold".

Evakuierte Volksdeutsche aus der Batschka zogen sei uns ein und wurden in den Schulen untergebracht. Zum Teil kamen sie mit ihren auf der Bahn transportierten Pferde an. Man sah sie auf ihren eigenartigen muldenförmigen Wagen durch die Stadt fahren.

So wurde uns das Schicksal von Menschen nahegebracht, die um des Krieges willen ihre Heimat hatten verlassen müssen. Beim Begräbnis eines treuen volksdeutschen Bauern aus reicher ungarischer Gegend wurde es uns ins Herz geprägt: Wir haben hier keine bleibende Stadt, sondern die zukünftige suchen wir.

Ende 1944 und Anfang 1945 hielt ich den Konfirmandenunterricht für eine Gruppe in unserm Eßzimmer. Es mußte zu diesem Zweck jedesmal ausgeräumt werden. Für die größeren Grup-pen war es zu klein. Ich mußte mir von einer zur andern Stunde überlegen, wohin wir gehen sollten.
So hatte damals unser Grenzland schon eher die Last der Raumnot zu tragen als das übrige Deutschland. Später in Sachsen und Westfalen wunderten wir uns, daß noch größere Säle ver-fügbar waren.

Blinde Parteigenossen und ihre Anhänger glaubten immer noch an die Möglichkeit eines "Sieges", solange wir in der Heimat waren. Wenn erst die große Entscheidungsschlacht im Westen am Kanal geschlagen sein würde, dann würde die Masse der Truppen wieder nach dem Osten geworfen werden, und dann... Solche Leute glaubten auch, daß der Feind durch die Schanzgräben aufgehalten werden könne. Man erzählte sich geheimnisvoll flüsternd von neu-en Waffen, die es ermöglichen würden, im eigenen Land dem Vormarsch Einhalt zu gebieten bis zur großen Wende.

Nüchternes Wirklichkeitsdenken galt als Sabotage des Sieges. Abtransportiert durfte beileibe nichts werden, weder Vieh noch Vorräte noch Kunstgegenstände noch sonst etwas. Selbst das Verschicken von Stückgütern war verpönt. So fiel der ganze noch vorhandene Reichtum des Landes später in die Hand des Feindes. Herr Scholz-Altstadt wollte am 19.1.45 abends sein Großvieh mithilfe der französischen Gefangenen abtreiben lassen. Es gelang nicht mehr. Er begründet das Scheitern dieser Maßnahme mit der Kopflosigkeit der Kreisleitung. Und die Befestigungssysteme haben nicht genutzt. Denn es fehlte an Waffen, es fehlte vor allen Din-gen an Soldaten.
Am 5.Mai 44 wurde in Namslau (wie ähnlich wohl überall) eine Musterung im Hotel am Stadttor gehalten. Man ging bis zu den 60-jährigen zurück. Der am 18.Oktober 44 aufgerufe-ne "Volkssturm", das allerletzte Aufgebot, musste eine stumpfe u. untaugliche Waffe bleiben.

Daß die Stimmung anfing, zugunsten des christlichen Gottesglaubens umzuschlagen, merkte man an dem starken Besuch der Gottesdienste Weihnachten 1944. Als ich bei der Christnacht-feier auf der Kanzel stand, sah ich im Schiff, auf den Emporen und in den Gängen alles ge-drängt voll. Es kamen sogar ohne Scheu Arbeitsdienstleute in Uniform in die Kirche, was vorher streng untersagt war, und Wehrmachtshelferinnen ebenso. An diesem Abend mögen an 2000 Kirchgänger dagewesen sein.

Beim Begräbnis des Arbeitsdienstmannes G. Thiel am 3.1.1945 war der Arbeitsdienstführer nicht nur sehr höflich, sondern auch aufgeschlossen und dankbar für das, was ich sagte.

Es waren tatsächlich alle Vorbereitungen zur Verteidigung seitens der Partei nur Äußerungen eines krampfhaften Willens, etwas zu tun. Vielleicht hoffte man auch, das Volk dadurch vom nüchternen Nachdenken über die Nähe und Größe der Gefahr abzulenken. Und die Seele des Volkes gehörte schon nicht mehr "dem Führer" und seinen Männern. - Es fehlten tatsächlich alle realen und ideellen Voraussetzungen für eine wirksame Verteidigung des Heimatbodens. In Wahrheit wurden Volk und Land dem heranstürmenden Feind ausgeliefert.

In Stunden kühlen Nachdenkens sagten wir uns, daß wenn die Russen und Polen kommen würden, wir Deutschen ausgetrieben werden würden - und nicht mehr zurückkehren dürften. Ein Komplott der damals in Namslau beschäftigten polnischen Arbeiter, das die Ermordung führender Deutscher zum Ziel hatte und noch beizeiten entdeckt wurde, zeigte, daß die Polen ihrer Sache sicher waren.

II. Die letzten deutschen Tage in Namslau

Der Russe war im Sommer 1944 noch einmal an der Weichsel aufgehalten worden. Unser 2. Sohn Dieter, der in Rußland kämpfte, hatte bei seinem letzten Heimaturlaub Ende 1944 aus dem gutmeinenden Bewußtsein des deutschen Soldaten heraus uns versichert, die Russen würden niemals Schlesien betreten. Anfang Januar bekamen wir von ihm, datiert vom 11.1.1945, aus der Weichselstellung von einem Überholungskursus in Frontnähe, einen sehr vergnügten Brief. Am 12.1.1945 brach der Russe durch (Baranow-Brückenkopf). Nach genau 8 Tagen mussten wir die Heimat verlassen.


16.1.1945

Am 16.1.1945 traf meine Frau in der Frühe beim Milchholen einen deutschen Soldaten, der nach dem Wehrmeldeamt fragte. Er erzählte, daß er von Tschenstochau käme. Die deutsche Stellung dort sei geräumt - die Russen seien in der Stadt. Um 12 Uhr noch seien die Deut-schen auf ihrem Rückzug in Tschenstochau gewesen, um 14 Uhr die Russen. Sie, die deut-schen Truppen, seinen alle versprengt, er müsse sich hier melden. Am 18.1.45 fragte ich in Lorzendorf den Generalfeldmarschall von Manstein, wie die plötzliche Räumung von T. zu erklären sei bei dem 3-fachen Verteidigungsgürtel. Er erwiderte, der 1. Ring sei schwach, der 2. und 3. gar nicht besetzt gewesen. Also Truppenangelegenheit. - Tschenstochau liegt 100 km entfernt von Namslau.

In den ersten Januartagen war das Leben in Namslau verlaufen wie immer. Man tat seine Ar-beit. Unsere Tochter war am 8. und 15.1.45 in Breslau beim Jungmädchenwerk, ich selbst hatte am 19.1. dort zu tun. Die Schwester meiner Frau kam am 12.1.45 nochmals von einer Reise nach Braunschweig und Berlin zurück. Den letzten Gottesdienst in unserer Andreaskir-che hielt ich, ohne das zu wissen, am 14.1.1945 bei einer Innentemperatur von +1°. Es war der letzte Gottesdienst in dieser Kirche dort überhaupt. Obwohl wir Kohlenvorräte besaßen, durften wir die Kirche nicht mehr heizen. Die Nachrichten von d. West-, Süd- und Ostfront waren ernst. Montag, den 15.1.1945, waren zwei Soldaten aus dem Lazarett "Krüppelheim" bei uns zu Gast. Der eine, ein Mathematik-Student aus Bethel, erzählte, er habe bei der Kreis-leitung Berechnungen ausführen müssen über Aufstellung und Reichweite von Verteidi-gungsgeschützen im Kreis Namslau (jetzt schon!)

17.1.1945

Als ich am Mittwoch, 17.1., aus meiner Vertretungsgemeinde Mühlwitz mit der Bahn zurück-kam, fand ich bei meiner Ankunft die Bahnhofshalle übervoll in einer Art, wie ich es niemals erlebt hatte. Auf meine erstaunte Frage erhielt ich die Antwort "Ja, das sind Kreuzburger Flüchtlinge. Man hat sie mit Autos hierher gebracht, weil der Kreuzburger Bahnhof verstopft wär" (Übrigens lag N. an derselben Strecke wie Kreuzburg).

War es an diesem Tage, daß ich am Bahnhof eine frühere Konfirmandin von mir aus Kaulwitz traf? Eine Bauerntochter. Sie sah sehr schwarz und erzählte, daß ihr Bürgermeister, seiner Verantwortung bewußt, allen geraten hätte, ihre Wagen zu packen und so in die Scheune zu stellen.

Am 17.1.1945 beginnen LKW´s von der Ostfront bei uns vorüberzufahren. Unser Haus lag an der Straße, die auf der einen Seite nach Kreuzburg, auf der andern nach Oels weiterging (Reichsstrasse 117). Diese Militärfahrzeuge waren auffallend unordentlich bepackt, wie frü-her nie. Wir denken, daß wir rückwärtiges Gebiet werden.
Meine Frau bringt eine Kiste mit ihren liebsten Büchern auf die Bahn.

18.1.1945

Donnerstag, den 18.1., fahren die ersten Trecks aus Blachstädt O.S. bei uns vorüber. Meine Bücherkiste wird nicht mehr angenommen. Ich hätte an diesem Tage nach Mühlwitz zum Konfirmandenunterricht fahren müssen (35 km). Aber das Leben ist so merkwürdig verändert. Pastor August rät mir ab, Namslau zu verlassen. Es gelingt mir nicht mehr, in Mühlwitz anzu-rufen. Viel viel später erfuhr ich, daß dort schon alles in Auflösung gewesen sei und kein Kind mehr daran gedacht haben würde, zu erscheinen. Beim Mittagbrot telephonischer Anruf von Frau von Loesch (Lorzendorf): Maria v. Loesch soll getraut werden. Alles ist vorbereitet. Aber ihr Konfirmator aus Breslau, der trauen soll, kommt nicht. Ob ich einspringen will? Lorzendorf gehört zwar nicht zur Kirchgemeinde Namslau. "Selbstverständlich komme ich." Das ganze Dorf ist in der kleinen Kirche versammelt. Beim Trau-Essen sitze ich dem General-feldmarschall von Manstein gegenüber. "Ja, jetzt wird unser Land hier Kampfgebiet. Wir werden fühlen, was das heißt."

Während des Essens soll die Nachricht gekommen sein, es müsse geräumt werden (Nach 8 Tagen etwa traf ich den Lorzendorfer Treck im Kreise Reichenbach).

In eigenartig gefaßter Stimmung fuhr ich mit andern Gästen im Schlitten nach Namslau zu-rück. Am Horizont in der Ferne - waren das aufblitzene Mündungsfeuer von Geschützen?

Um 7 Uhr in Namslau. Fliegeralarm! Sofort in den Luftschutzkeller. 1/2 8 bis 1/2 10 Uhr ist die Hausgemeinschaft dort versammelt. Der Hausbesitzer Gollnisch will am nächsten Tage seine Frau fortbringen. Um 22 Uhr Essen. Es hat getroffen auf der Böhmwitzer Straße bei Müller und bei Lenart. Bei uns sind nur Fensterscheiben entzwei. Wir packen die Nacht durch bis 4 Uhr früh für unsere Tochter, Schwägerin und uns - vorsichtshalber.

19.1.1945

III. Der Tag der Vertreibung - 19.1.1945

Beim Aufstehen nehmen wir einen ganz eigenartig fahlen Schein am Himmel wahr. Merk-würdiges Licht überall. Dora hatte das Gefühl: Sind wir vielleicht noch allein in Namslau, und die übrige Stadt abgerückt? Es ist alles so still. In der Nacht kann sich noch allerhand ereignet haben. Im Losungsbuch der Brüdergemeinde steht: "Gedenke an den Herrn, Deinen Gott, er ist´s, der Dir Kräfte gibt" (5.Mose 8 V.18 und: "Ich vermag alles durch den, der mich mächtig macht, Christus" Phil.4, V.13).

Aber der Tag bringt seine Pflichten. Am Montag, den 15.1., war in unserer Wohnung neben meinem Arbeitszimmer unsere Mitbewohnerin, Frau Tebbe, gestorben. Sie soll heute begra-ben werden. Ich bespreche das mit ihrem Mann. Das Telephon klingelt. Ich soll zu Frau Buia, ihr Kind zu taufen. Um 9 Uhr gehe ich zu ihr und lege (das letzte Mal in Namslau) meinen Talar zur Taufe an, wir nehmen das Kindlein auf in Gottes Gnadenreich, bevor d. Mutter das Haus verläßt. Der junge Vater ist im Feld. Ich tröste die junge Mutter. Die Jahreslosung heißt: Lasset uns aufsehen auf Jesus, den Anfänger und Vollender des Glaubens.

Der Großvater des Kindes, der einen Auftrag hatte für Pferdemusterung (?) teilt mit: "Es ist Räumung befohlen. Wir fahren unmittelbar nach der Taufe ab. Sie werden doch nicht dablei-ben?!" "Man weiß es nicht! Es heißt, es fahren Lautsprecherwagen durch die Straßen, die die Weisung geben." - Man telephoniert hierhin und dorthin zwischen der gewohnten Arbeit. Meine Frau geht in´s Krankenhaus und bittet, daß eine schwer beinkranke Frau mitgenommen werden soll, wenn der Befehl käme.

Truppen in Fahrzeugen fahren von Ost nach West an unserm Haus vorüber. Soldaten treten für einen Augenblick in den Flur, um sich zu erwärmen. Man sieht auf der Straße Leute mit bepackten Handschlitten. Meine Frau erkundigt sich in Nachbarhäusern nach der Lage. Wir essen zu Mittag. Dann rüsten wir für die Abfahrt meiner Schwägerin und Tochter mit dem gerüsteten Pferdewagen des Hausbesitzers Gollnisch (Lastwagen mit Plane und angehängtem Auto). Er fährt mit Frau Pastor Langer mit ihren 4 Kindern und Frau Gollnisch mit 2 Kindern und noch einer Frau zur Hilfe in Richtung Ohlau ab. Kutscher ist ein Volksdeutscher aus der Batschka, der seinen Sonntagsanzug angelegt hat. Der eigentliche Kutscher ist zum Volks-sturm einberufen. Um 15 Uhr setzt sich das Frauenfluchtgefährt in Bewegung. Der treue Mann ergreift die Peitsche zu seiner zweiten Flucht und spricht mit Betonung: "In Gottes Namen!"

Langsam geht´s zum Tor hinaus in Richtung Stadtwald. Da fahren zwei Frauen in´s Ungewis-se, die eine ist guter Hoffnung, die andere weiß ihren Mann an der ostpreussischen Front. A-ber was sie noch nicht weiß, ist, daß er dort vor 3 Tagen gefallen ist.

Im Haus ist nun oben und unten nur noch mein treues Weib und ich. Wir wollen bei der Ge-meinde bleiben. In dem Haus im Hof hinten ist noch unser zum Volkssturm einberufener Hausbesitzer.

Gegen 14 Uhr war durch den Lautsprecher auf dem Ring bekannt gemacht worden, es liege kein Anlaß zur Räumung vor. Jeder hätte dazubleiben. Wer fortginge, würde polizeilich zu-rückgeholt.

Der Besitzer von Altstadt, Herr Herbert Scholz, hat diese Rede des Kreisleiters Fischer auf dem Ring selbst mit angehört und berichtet, Fischer habe gesagt, der Russe sei zum Halten gebracht worden, es bestünde überhaupt keine Gefahr, man solle keine übereilten Maßnahmen treffen. Falls Gefahr drohe, werde die Bevölkerung von Stadt und Land rechtzeitig benach-richtigt werden, eventuell auf den Treck zu gehen. Im übrigen wies er mit besonderer Schärfe darauf hin daß jeder, der eigenmächtig handele, bestraft werden würde. Im besonderen ver-dammte er das eigenmächtige Handeln von Herrn Braune-Krikau, der seiner Gefolgschaft geraten haben solle, alles zu packen und auf die Treckwagen zu verstauen. In der Kreisleitung hörte Herr Scholz später von Fischer noch einmal das selbe.

Ich hielt es daraufhin für meine Pflicht, in der Gemeinde zu bleiben. Meine Frau entschloß sich, bei mir auszuharren.
An diesem Nachmittag machten sich Soldaten auf dem Rückmarsch in unsere Küche ihre Fischkonserven warm und bekamen heißen Kaffee als Erquickung bei der Winterkälte. Auch wollten Offiziere ein Zimmer zu einer Besprechung haben. Sie sollten es gerne bekommen. Ich hatte Gemeindebesuche vor. Meine Frau ging und kaufte ein Brot - wie immer auf Mar-ken. Am Vormittag sollen durchziehende Soldaten beim Fleischkauf auch noch Marken haben abgeben müssen. Nur der Schuhhausinhaber Woitschig soll am 19.1. Schuhe frei verkauft haben.

So sah das aus, was wir an diesem Tage bis dahin wußten. Wir wußten aber nicht , daß schon früh um 1/2 9 Uhr im internen Dienst die Räumung der Stadt angeordnet worden war. Ein Volkssturmmann teilt mir mit, daß er früh um 1/2 9 Uhr auf dem Landratsamt als Melder ein-geteilt worden war. Und während der Lautsprecher am Ring den Bewohnern in die Ohren schrie, was oben gesagt wurde, stand der Wagen des Kreisleiters vollbepackt in der Autohandlung Thienel und wurde dort nachgesehen und auf Fahrsicherheit untersucht (Aussage eines dort beschäftigten Schlossers).

Um 17 Uhr wurde der Befehl von 14 Uhr ins Entgegengesetzte geändert: Jede einzelne Woh-nung müsse geräumt werden, keiner dürfe bleiben. Also nun wirklich: Allgemeine Räumung! Wir wohnten von diesem Lautsprecher zu weit ab, als daß wir ihn hätten hören können. Aber der Inhalt verbreitete sich wie ein Lauffeuer durch die Stadt. Nur wußte keiner, wie er fort-kommen sollte. Bei uns auf d. Wilhelm-Straße hieß es, es werde ein Pferdetreck auf dem Viehmarkt zusammengestellt (Aber wo sollten in der Stadt dazu die Pferde herkommen!!). Frauen, die dort gehorsam darauf warteten, bis etwa zur Mitternacht, sind nachher mit Kin-derwagen durch die kalte Winternacht zu Fuß nach Brieg an der Oder gegangen, das sind 32 - 35 km. Unsere Gemeindehelferin fuhr auf eigene Faust m. Rad auf vereister Landstrasse zu ihrer Freundin nach Carlsruhe O.S., ohne zu wissen, ob es nicht vielleicht den Russen entge-gen ginge. Andere wieder verließen die Stadt schon früher, am 18.1. mit der Bahn, wieder andere gingen mit Handwagen am 19.1. durch den Stadtwald nach Ohlau. Wer in der Stadt-mitte, näher am Bahnhof wohnte, hoffte wohl noch, mit irgend einem eingesetzten Zug mit-zukommen.

Ich suchte mich telephonisch mit den Behörden in Verbindung zu setzen, bekam aber weder beim Bürgermeister noch bei der Kreisleitung noch beim Landratsamt Anschluß. Man war auf sich selbst angewiesen. Er Leutnant Sch. aus Aachen sagte in unserm Haus, es auch hier ge-nau, wie es im Westen gewesen sei - alles zu spät. Sehr dringlich warnte er: Die Russen seien näher als wir glaubten. Er riet uns sofort so schnell wie möglich fort zu gehen. Meine Frau fragte ihn, ob er noch etwas brauchen könnte? - "Ja, ein Handtuch; die Russen nehmen ja doch bald alles. Wir sollten fort aus dem Kampfgebiet, aber wie? Vom 18. her wußten wir, daß die Eisenbahn ihren regelmäßigen Dienst eingestellt hatte. Er riet uns als Deutsche uns auf die Straße zu stellen und uns von einem Wehrmachtswagen mitnehmen zu lassen.

Und die Kirchenbehörde? Von einer Weisung des Konsistoriums wußte ich nichts. Die Be-kennende Kirche hatte gesagt: Geht dahin, wohin die Gemeinde geht.

Durch einen freundlichen persönlichen Hinweis eines lieben Frauenhilfsmitgliedes, das bei der NSV arbeitete, wußte ich, daß der Kreis Reichenbach (Eule) als Auffangkreis für den Kreis Namslau vorgesehen war. Darum konnte man dort hoffen, einen großen Teil der Ge-meindemitglieder wiederzufinden. Bei dem Fehlen aller meiner Richtlinien von oben her für die Art der Räumung blieb es der Initiative jedes Einzelnen überlassen, wie er fortkäme. Dar-um konnte man in diese auf äußerste Eile drängenden Lage auch nichts für andere Gemein-demitglieder tun.

Unser Hausbesitzer erschien so etwa gegen 17.30 Uhr noch einmal bei uns und fragte, wie wir es mit den Schlüsseln halten wollten. Ich sagte: Ich lasse alles offen. Er meinte, er wolle nun sein "Parteihemd" verbrennen. Es sei doch alles aus. In unserm Eß-Zimmer stand noch der Christbaum, eine schöne Tanne. Wir hatten ihn länger stehen lassen als sonst.

Es mag 18 Uhr gewesen sein, da verließen meine Frau und ich unsere Wohnung, so wie alles stand und lag, und damit stand das Haus leer. Wir zogen unsere selten gebrauchten Winter-pelze an und nahmen jeder ein kleineres und ein größeres Gepäckstück in die Hand. Mir platzte der Rucksackriemen beim Umhängen über den dicken Pelz. Ohne uns umzusehen gin-gen wir aus dem Haus und stellten uns auf die Ost-West-Straße vor unser Haus und versuch-ten, Militärwagen anzuhalten. Sie hatten aber andere Befehle. So schleppten wir unsere Sa-chen und Decken nach dem Litzmannplatz und hofften, dort mitgenommen zu werden. Es glückte. Wir räumten unsere Sachen in den dunkeln Kasten mit andern unbekannten Leuten zugleich, stiegen ein und warteten, wohin es gehen würde. Nach einer Weile ging es in Rich-tung Hohe Brücke. Ich hoffte, daß wir nicht nach Breslau gebracht würden. Denn daß dort eine fürchterliche Verstopfung aller Straßen und Brücken über die Oder drohte, war mir klar. Im völlig verschlossenen fensterlosen Wagen tastete ich nach meinem Besitz. Keiner hatte eine elektrische Taschenlampe. Ich fand meinen Rucksack nicht, in dem die Sparkassenbü-cher, Bibel und Gesangbuch waren, und wagte es, in der Nähe unseres Friedhofes noch ein-mal auszusteigen und über die Bahnbrücke im Dauerlauf zurückzurennen. An beiden Brü-ckenenden meinte ich Pioniere zu sehen, die sich an der Brücke zu schaffen machten. Im Lau-fen sah ich in Richtung Nord oder Nordost hellen flackernden Schein am Nachthimmel. Am Litzmann-Platz fand ich den Rucksack nicht, gab die Suche auf und rannte denselben Weg zurück, beseelte von dem Gedanken, den Wagen mit meiner Frau wiederzufinden. Ich hatte mir seine Nummer gemerkt. Endlich fand ich ihn an einer weiter entfernten Stelle unter vielen anderen Wagen. Aber ein wütend schreiender Feldwebel verwehrte mir das Einsteigen. Ich sagte ihm von meiner Frau und meinem Gepäck. "Alles gleich", meinte er. "Ihre Frau fährt, Sie bleiben hier, Sie gehören in den Volkssturm." War es wohl Befehl, den Volkssturm jetzt noch zu vermehren? Ein damals 63-jähriger Lehrer, schon pensioniert, schrieb mir, daß er in der Nacht um 2 Uhr seine Frau zum Zuge gebracht habe, aber selbst nicht mitgenommen worden sei. - Schließlich winkte mir der Fahrer, still beiseite zu treten. Beim Einsteigen hatte ihn meine Frau einen Schluck aus der Feldflasche tun lassen. Als der Wütende sich etwas entfernt hatte, rief mich der Chauffeur neben sich auf seinen Sitz. Ich sollte mich aber tief bücken. So bin ich denn tief gebückt aus dem Ort meiner Gemeinde herausgefahren, wo ich 15 Jahre gearbeitet hatte. Viele standen am Wege mit ihren Bündeln. Beim Anhalten mußte ich mich immer wieder verstecken, bis es ins Freie hinausging. Nun konnte ich in der mir wohlbekannten Gegend dem Chauffeur Führerdienste tun. Meine Frau im Innern des Wagens wußte nicht, ob ich wieder hatte einsteigen können. Ich konnte mich ihr nicht bemerkbar ma-chen, das ein Hohlraum zwischen uns war.

Viel zum Nachdenken über das weiter Schicksal unserer Heimat und unserer Gemeinde kam ich nicht. So ging es wohl allen. Das war eine Gnade. Ich wünschte nur, daß unser Haus mög-lichst bald durch eine Bombe vernichtet werden möge, damit nicht alles, woran man hing in die Hände roher Menschen fiele. In der Nacht vom 20. / 21. Januar standen wir auf dem Bahnhof in Heidersdorf und hörten die Nachrichten des Rundfunks. Da wurde der Raum Namslau im Wehrmachtsbericht genannt.

Bei der Fahrt in´s Ungewisse klangen die Losungsworte vom Morgen des 19.1.1945 in mei-nem Innern: "Gott ist´s der dir Kräfte gibt" - und "Ich vermag alles durch den, der mich mäch-tig macht, Christus".

Solcher Trost war notwendig. Denn erschütternd war, was wir zum ersten Mal schon auf der Landstraße Namslau - Brieg sahen. Und wieder, wie schon in den letzten Tagen, ging mir das Schriftwort durch den Sinn: "Bittet, daß eure Flucht nicht geschehe im Winter." Wir selbst fuhren in der Mitte des Fahrdammes. Rechts von uns in derselben Richtung bewegte sich ganz langsam und mühselig ein trauriger Zug: Der Treck der aus der Heimat verjagten Bauern mit ihren Wagen, hier und dort Vieh dazwischen. An gewissen Punkten hielten sie immer wieder einmal an, wenn die Wagen zu dicht aufeinander prallten. Die Bodenständigen, die das Land bebauten, die das Land "besaßen" -im wahrsten Sinne- auf dem Vertriebenenwege! Würden Sie dem Feind entgehen? Würden sie jemals zurückkehren?

Und auf der anderen Straßenseite kam uns entgegen, zwei und zwei, still marschierend ein Haufen deutscher Soldaten mit ihren weißen Stahlhelmen, der nun in die leeren Stellungen einrücken und zusammen mit dem Volkssturm die Heimat verteidigen sollte! Jetzt schon?! Was stand ihnen und uns bevor?

Brieg ist nahe. Aber der Wagen stoppt. Sperrposten an den Oderbrücken. Was ist? Flieger-alarm. Wir warten eine Weile. Dann passieren wir die Brücken, eine nach der anderen, und fahren in die dunkle Stadt ein. In der Nähe einer Schule werden unsere Wagen auf der Straße entladen. Große Massen Evakuierter, dazwischen Volkssturmleute, erfüllen gespenstisch die Straßen. Die Evakuierten strömen zur Schule.

Mir war der Superintendent B. bekannt. Wir bringen unser Gepäck auf geliehenem Hand-schlitten in seine Wohnung. Er selbst und seine Frau sind nicht da, sie haben die verheiratete Tochter n. Steinseiffersdorf im Eulengebirge gebracht. Wir übernachten dort, Ankunft 23.30 Uhr.

So war die erste Nacht fern der Heimat noch freundlich für uns. - Der Abschied lag nun hinter uns. Der 19. Januar 1945 als unser Schicksalstag hat sich tief in unser Gedächtnis eingegraben - Räumung des rechten Oderufers!

Am nächsten Morgen suchten wir unter der großen Menge der in den Schulen Untergebrach-ten Gemeindeglieder und konnte eine ganze Anzahl sprechen.

Was wird nun? Wie weiter? Ich spreche mit den Stellen der Lagerleitung. Man berät noch. Der Landrat (genau weiß ich nicht, war er´s?) versucht, die LKW´s zum weiteren Abtransport einzusetzen. Er bekommt sie nicht. So soll es mit der Bahn weitergehen.

Wie wir erst viel später erfahren, waren die Dörfer um Namslau auch in den Abend- und Nachtstunden des 19. Januar im Pferdetreck geräumt worden.

Die Ortsgruppenleiter und Bürgermeister scheinen den Räumungsbefehl zu verschiedenen Zeiten bekommen zu haben. In dem großen Dorfe Wilkau war am 19.1. früh angeordnet wor-den, daß am 20. Früh 06.30 Uhr abgerückt werden solle. Der Befehl wurde geändert. Es wur-de am 19.1. um 23.30 Uhr durch Alarmblasen die sofortige Evakuierung befohlen. Da alles vorbereitet war, wurde es möglich, daß sich das Dorf schon um 00.30 Uhr auf dem Abmarsch befand.

Der Bürgermeister von Krikau schreibt: " Wir haben in Krickau keinen Befehl zur Räumung bekommen, weil der Fernsprecher nicht mehr in Ordnung war und die Verbindung zu Partei und Landratsamt nicht mehr funktionierte. Ich habe aber meinen Namslauer Bruder erreicht, als ich am Nachmittag persönlich die Feuersäulen in Glausche gesehen hatte und Flüchtende, die durch meinen Hof kamen, berichteten, daß die Russen durch Glausche im Laufe des Tages hindurch über Schmograu auf die Chaussee Paulsdorf - Pangau weitergefahren seien (angeb-lich Panzer). (Herr Friedrich Sroka: "Gegen 17.00 Uhr brachen zwei russische Panzer in Glausche ein.") Meinen Bruder erreichte ich noch gerade, ehe er selbst abfuhr, und hörte von ihm, daß in Namslau der Befehl zur Räumung gegeben sei. Daraufhin habe ich ......... die Mobilisierung zum Treck anordnet. Es war etwa 7 Uhr abends. Der Treck stand gegen 11 Uhr nachts marschbereit. Überschreitung der Oder bei Peisterwitz am Sonntag, den 21.1.1945.

Altstadt bekam um 17.00 Uhr Befehl, in 2 Stunden abzurücken. Um 20.00 Uhr Abmarsch unter Führung zuerst vor Warbrandt. Die Landbevölkerung hat ihre Wagen noch verhältnis-mäßig ordentlich bepacken können und für´s erste mehr gerettet als die Städter. Später freilich hat sie in der Tschechei so gut wie alles eingebüßt - bis auf Ausnahmen. -

Es wurden alle drei Wege über die Oder benutzt. Die Trecks gingen bei Brieg und Ohlau über den Fluß, die Eisenbahn wie auch sonst in Breslau.

Wie bewußt und gesammelt doch auch in diesem Trubel der Abschied von der Heimat began-gen werden konnte, hat mir später eine Gutsfrau erzählt:

Als der Treck abfahrbereit stand, ging sie noch einmal durch alle Räume, sah auch die Schlaf-räume in Ordnung wie immer, setzte sich noch einmal an den Flügel und spielte ein Bach´sches Präludium. An der Haustür machte sie noch einmal Halt, betete still ein Vater unser, schloß ab und versenkte zum Schluß den Schlüssel im nahen Teich. Dann bestieg sie den Wagen.



Bericht des früheren Landrats Heinrich
über die letzten Tage in Namslau


Donnerstag, den 18. Januar 1945
Verstärkter Flüchtlingsstrom aus dem Gebiet um Litzmannstadt und Posen durch Namslau in Richtung Breslau.
Nachmittags Befehl an den Chef des Reservelazaretts N., am nächsten Tage lt. Verlegungs-plan d. Lazarett nach Bad Landeck, Grafschaft Gatz, zu verlegen. In den Abendstunden leich-ter Fliegerangriff auf Namslau.

Mitternacht: Eintreffen von Landrat Heinrich aus dem Westen. Absicht: Nur Abholen von Wintersachen und Orientierung über die Lage.

Freitag, den 19. Januar 1945
05.00 Uhr Anruf aus Wielun od. Umgebung bei Landrat H., daß dort die Russen umherstrei-fen.
08.00 Uhr Besprechung mit Kreisleiter Fischer über Abtransport der schwangeren Frauen und Räumung des Kreises. Kreisleiter Fischer bestreitet die Gefahr. Tel. Rücksprache mit Reg.-Präs. Kroll (Breslau) über Militär und zivile Lage. Präs. Kroll glaubt, daß mil. Kräfte zum Gegenstoß antreten werden. Hinweis von Landrat Heinrich, daß sicherheitshalber schwangere Frauen und Sieche abtransportiert werden müssen. Befehl an Fahrbereitschaftsleiter Ilchmann gegen 9.00 Uhr, alle verfügbaren PKW und LKW für 11.30 Uhr auf General-Litzmann-Platz b. Pietzonka zu bestellen.

10.00 Uhr Eintreffen eines Adjutanten von Generalfeldmarschall von Manstein, der schleuni-ge Räumung empfiehlt, besonders aller Ortschaften vor der Barthold-Linie.

10.30 Uhr Beschlagnahme sämtl. Treibstoffes durch Oberquartiermeister IV: Panzerarmee. 11.30 Uhr Besprechung mit O.Qu.IV.P.-Armee und Kreisleiter Fischer. 1,5 cbz Benzin und Dieseltreibstoff werden für zivile Zwecke freigegeben, Rest für militärische Aufgaben.

13.30 Uhr Ansprache von Kreisleiter Fischer über Lautsprecher auf dem Marktplatz an die Bevölkerung, auszuhalten und Ruhe zu bewahren, es bestehe keine unmittelbare Gefahr.

13.45 Uhr Eintreffen des bisherigen Landrats von Tomatschow b. Landrat H., der nach Kreuzburg ausweichen will. Telf. Anruf in Kreuzburg ergibt keine Verbindung mehr.

14.00 Uhr Besprechung mit Kreisleiter F. über Abtransport von 600-1000
hilfsbedürftigen Frauen und sonstigen Personen mit der Eisenbahn, da die Aktion 11.30 Uhr ab Gen.-Litzmann-Platz infolge Ausbleiben der Kraftfahrzeuge scheiterte.

15.00 Uhr Eintreffen von SA-Obergruppenführer Herzog in der Gegend Kaulwitz.Obischau berichtet. Der gesamte Volkssturm von Namslau besetzt den Stadtrand zur Abwehr ev. Russi-scher Panzerstreifen.

15.30 Uhr Räumungs-Befehl für den gesamten Kreis u. telf. Anruf bei Reg. Breslau über Lage und Anforderung von Eisenbahnsonderzügen, da Räumungsplan derr NSV undurchführbar. Bauern nehmen keine Städter auf den Pferdefahrzeugen mit.

Ab 16.00 Uhr Räumung des Landratsamtes, Verladung des Lazaretts auf LKW. Als letzte des Lazaretts verlassen Dr. Kusche´ mit Frau Heinrich gegen 22.00 Uhr Namslau über Strehlen nach Bad Landeck. Konzentrierung der Polizei, der leitenden Beamten des Landratsamtes, Kreisbauernführer usw. in der Telefon-Zentrale des Landratsamtes.

Ab 20.30 Uhr bis zum nächsten Morgen Eintreffen v. 5 Personenzügen, in denen je 1500 Per-sonen aus der Stadt abtransportiert werden. 22.00 Uhr: Polizei-Oberleutnant Rahmel gibt A-larm und behauptet, daß russische Panzer auf dem Marktplatz erschienen sind. Fehlmeldung! Organisierung der Ortsabwehr durch Landrat H. im Einvernehmen m. dem Kampfkomman-danten von Namslau, Oberstleutant des Schweidnitzer Ers.-Battl...

Sonnabend, den 20. Januar 1945

Ruhiger Nachtverlauf, geringer Geschützdonner in Richtung Buchelsdorf, Reichthal. Organi-sierung des Abtransports von Lebensmitteln mit dem Ib der in Oels stationierten Division (Butter und Zucker). Kampflärm aus Richtung Reichthal. Gegen 12.00 Uhr sind fast alle Ort-schaften des Kreises menschenleer. Teile der PKW-Kolonne, die am Vortage die hoch-schwangeren Frauen und Kleinkinder nach Brieg gebracht haben, kehren mit Kreisbaumeister Sternitzke und dem Kreisfeuerwehrführer Jakob nach Namslau zurück. Am Nachmittag wei-tere Räumungsmaßnahmen zum Abtransport von Vieh und Lebensmitteln in den Namslauer Geschäften. Vordringen der Russen bis Reichthal und Konstadt Lage bei Schwirz ungeklärt.

Gegen Mitternacht angebliches Vordringen der Russen nach Giesdorf und Obischau erweist sich als unzutreffend. 4 Geschütze gehen nördlich des Stadtparks in Stellung.

Sonntag, den 21. Januar 1945
04.00 Uhr Einsetzen von deutschen Truppen im Ostteil von Namslau (Böhmwitz) zur Ortsver-teidigung mit dem Volkssturmbattaillon Köhn. Teilweise Panik beim Volkssturm.

07.30 Uhr Eintreffen von deutschen Panzern aus Brieg (10. und 3. Sturmgeschütz), die nach Glausche geleitet werden. Angriff gegen die in Reichthal befindlichen Russen kann wegen Benzinmangel nicht gefahren werden und kommt erst gegen 11.30 Uhr in Gang. Deutscher Angriff wird von russischer Pak abgewiesen gegen 13.00 Uhr.

10.00 Uhr Einrichtung einer militärischen Verpflegungsstelle in der ehemaligen Werk-Küche der deutschen Arbeitsfront. Aufbrechen einer Anzahl Geschäfte am Markt zur Bergung von Lebensmitteln. Die Russen erreichen Noldau.

13.00 Uhr Erste Arillerie-Einschläge in Namslau an der Hohen Brücke und bei der "Landwirt-schaftsbedarf". Die letzten Beamten des Landratsamtes und der Kreisbauernführer Seidel ver-lassen in PKW die Stadt in Richtung Ohlau.

14.00 Uhr: Kreisleiter verläßt bei verstärktem Artilleriebeschuß die Kreisleitung.

14.30 Uhr: Letztes Telefongespräch von Landrat H. mit Oberreg. Engel (Regierung Breslau) aus der Telefonzentrale des Landratsamtes in Gegenwart des Uffz. Moritz (Kartoffelverwer-tungsgenossenschaft). In Breslau wird Sonntagsdienst gemacht!! Reg.-Präs. Kroll unerreich-bar.

15.00 Uhr: Bürgermeister Sroka verläßt mit dem Rad Namslau. Löffel: "Wir verließen die Stadt in Richtung Windisch-Marchwitz."

15.45 Uhr: Noch stärkerer Artilleriebeschuß, die Russen haben bereits Grambschütz erreicht. Deutsche Truppen ziehen sich zurück.

16.00 Uhr: Besprechung mit Kampfkommandanten in der Brauerei Haselbach, der gerade vom Divisionskommandeur Oels Räumungsbefehl erhält. Standortältester von Mackensen bespricht mit Landrat H. Vernichtung des Wehrkreis-Sanitätsparks. Baumeister Puchalla geht unerkannt an Landrat vorbei u. bleibt in der Stadt.

16.45 Uhr: Landrat H. verläßt Brauerei Haselbach und fährt
17.00 Uhr: mit Kraftfahrer Mühlbach und Moritz von Gastwirtschaft Opitz nach Ohlau. Kampfkommandant weicht nach Bernstadt und Oels aus, da Umfassung der Kreisstadt von Nordwesten und Süden droht. Die Russen waren um 16.00 Uhr bereits in Mülchen.

19.00 Uhr: Gärtner Stojan zündet den Wehrkreissanitätspark an.

19.30 Uhr: Landrat H. trifft in Ohlau ein und weist dortigen Landrat Brass auf drohende Ge-fahren für die Gebiete nördlich der Oder hin.

22.00 Uhr: Eintreffen in Strehlen b. Landrat Sell.

Montag, denn 22. Januar 1945
Weiterfahrt nach Landeshut über Waldenburg. In Landeshut einrichten einer Namslauer Zweigstelle unter Oberinspektor König und Kreissparkasse.

Die Russen besetzen um 6.30 Uhr die Stadt Namslau.

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Anmerkung zu diesem Bericht des Landrats Heinrich betr. Abtransport der
Feuerwehrspritze u. anderer Feuerwehrgeräte.

Herr Hugo Röhricht schreibt:

" In der Nacht vom Sonnabend zu Sonntag kam die Anordnung vom Herrn Landrat, daß die noch anwesenden Feuerwehrmitglieder die Motorspitze ect. nach Brieg abtransportiern sollten. Viehhändler Sämann und ich taten dies. Sonntag früh kamen wir zur Abholung anderer Geräte wieder zurück. Die Straße Brieg - Namslau war durch Trecks gesperrt, daher Umweg über Ilnau - Carlsruhe, obwohl in Ilnau uns die Soldaten nicht mehr durchlassen wollten. In Namslau trafen wir Sonntag früh den Friedhofverwalter Kühnel mit dem Sanitätswagen im Hof des Wasserwerks. Wir sollten bis abends warten für den Fall von Feuergefahr. Sonntag abend fuhren wir nach Rücksprache mit dem Landrat fort. Wir nahmen noch 3 alte Leute mit nach Brieg."


------------------------- xxx Dies zur Ergänzung xxx ---------------------------

Ich schließe diesen Teil meines Berichts, der die Vertreibung aus der Heimat beschreibt, mit einem Gedicht, das uns allen den Ernst jener Tage vergegenwärtigt und zugleich uns auf den rechten Trost hinweist:
 

 
 

Der Treck
Sie wanderten aus mit Weib und Kind,
Sie mußten die Heimat verlassen,
Verlassen den Hof mit Stall und Rind
Und alles, was Sie besaßen.
Sie wanderten aus, aus Glanz und Glück,
Aus Schlössern und aus Hütten,
Und was sie besaßen - Stück für Stück -
Hat dann der Feind erstritten.
Sie wanderten aus, - und ihre Welt
Voll Schönheit, Kultur und Wissen,
Sie sank zusammen wie Staub zerfällt . . .
Der Freundes Kreis - zerrissen!
Sie wanderten aus! O große Not!
Sie lagen wie Bettler im Graben.
Ihr Elend, Heimweh und Hungersnot,
Sie können es nicht mehr tragen!
Sie liegen in Lagern und Scheuen bloß,
Sie frieren - und brennen in Gluten;
Die Seuchen machen sie hoffnungslos,
Bis zur Seele reichen die Fluten!
Nun mahlen die Räder durch tiefen Sand,
Vom Himmel fallen die Sterne.
Der Tod ergreift so manche Hand.
Ach Heimat, wie bist du so ferne!
Es gibt keine Rückkehr für Dich und Dein Kind -
Und doch ein ` Nach-Hause-Kommen`
Zu dem, der die Not der Verlassenheit kennt
Und Lasten auf sich genommen.
Und mußt Du wandern, so wand´re aus
Aus Deinem engen Herzen,
Gib dem Dich hin, der heut noch trägt
Die Welt in Ihren Schmerzen.
Ein´ neue Krone, ein neues Land
Ein Wandern aus sicheren Höhen
Wird Dir geschenkt durch diese Hand,
Wenn Du willst mit ihr gehen.
Und mußt Du dann wandern, so wandre hinein
In Deines Gottes Erbarmen,
Und Trost und Reichtum wird um Dich sein,
Gehörst Du auch jetzt zu den Armen.
(Frau Könnicke 1945)